Der (lt. Wikipedia) um 1360 entstandene Robertsbridge Codex enthält die älteste, überlieferte Musik für Tasteninstrumente. Bei YouTube finden sich mehrere Aufnahmen daraus mit der Bezeichnung "Estampie", es ist jedoch nicht immer dasselbe Stück, so weit ich das heraushöre. Die folgenden, die teilweise sogar auf gotischen Orgeln eingespielt wurden, wirken auf mich am authentischsten, es gibt aber noch viel mehr !
Diese Musik klingt für Ohren von heute fremd und ungewohnt, weit entfernt von Renaissance, Barock, Klassik und Romantik und scheint mir fast eher noch Ähnlichkeit mit manchen zeitgenössischen Orgelstücken zu haben. Wie wirkt diese Musik auf euch ? "Estampie" ist französisch und heißt auf Deutsch "gestempelt". Was das wohl musikalisch bedeutet ?
Das ist tolle Musik, ungewohnt für unsere Ohren und wie Du schon schriebst, manchmal von zeitgenössischer Anmutung. Ich finde, man kann sich da richtig in die Zeit der Ritter und Burgfräulein hineindenken. Ich hatte mal Noten aus dem C.R., habe sie aber irgendwo verloren. Es war ziemlich schwierig zu spielen, wie ich in Erinnerung habe, weshalb ich es dann beim Hören beließ. :-( Aber danke für die Verlinkung. Ich habe diese Musik lange nicht gehört, obwohl ich noch vor kurzem an der Orgel in Rysum saß, um einen Gottesdienst zu begleiten.
Für zwei der Estampies gibt es Noten im Netz. Der Link ist ganz unten auf der von Romanus verlinkten englischen Seite zum Robertsbridge Codex... Eine Estampie ist eigentlich Tanzmusik und vielleicht wird wohl besser mit "stampfen" statt "stempeln" übersetzt! Was sie so weit entfernt von aller anderer Musik seit der Renaissance ist, dass sie für pythagoräische Stimmung gedacht ist und daher ein völlig anderes System des Klangaufbaus hat. Terzen (als Intervall) sind in dieser Musik unreine Strebeklänge, die zur reinen Quinte streben. Irgendwann am Übergang wurde dann die reine Quinte gopfert, um die Terzen rein zu bekommen, die aber im Schlussklang noch lange ausgespart wurden (die Mollterz noch länger als die Durterz). Später hat man dann leider auch die reinen Terzen geopfert, um in allen absurden Tonarten spielen zu können. Dass das manchmal fast modern klingt, könnte auch daran liegen, dass sich die Moderne in Abgrenzung zum spätromantischen Schwulst eines Richard Wagner bewusst vom Mittelalter inspirieren ließ. Bei den französischen Komponisten um 1900 (Satie, Debussy) gibt es klare Anklänge und z.B. bei Arvo Pärt auch wieder sehr deutlich.
Ich habe mir gerade die beiden Estamies heruntergeladen und erkenne die 2. schon rein optisch als eine der auf YT gehörten wieder. Aber was bedeuten eigentlich die Buchstaben A-D bei der 2. Estampie ?
Sehr interessant sind auch Osterpfeife´s Ausführungen betreffend die Stimmung, denn meine Gloria Concerto 234 kann Pythagoräisch und bisher wußte ich mit dieser Stimmung nichts anzufangen, weil sogar Werke der Renaissance damit einfach furchtbar klingen und jetzt verstehe ich auch, warum !
A-D sind die Stellen, an denen man aus den verschiedenen Abschnitten in die Schlusswendungen zurückspringt. Wobei jede Strophe zweimal gespielt wird. Einmal mit "overt" und einmal mit "clos". Das wird also relativ lang verglichen mit dem, wie es auf dem Papier aussieht!
Zitat von Osterpfeife im Beitrag #5A-D sind die Stellen, an denen man aus den verschiedenen Abschnitten in die Schlusswendungen zurückspringt. Wobei jede Strophe zweimal gespielt wird. Einmal mit "overt" und einmal mit "clos".
Gerade wollte ich fragen, was denn die Hinweise "overt" und "clos" bei einem um 1360 komponierten Stück zu bedeuten haben, nachdem das Schwellwerk ja erst ca. 360 Jahre später erfunden wurde. 🤣 Mit Professor Google´s Hilfe konnte ich mir diese Frage selbst beantworten: O(u)vert und clos in der mittelalterlichen Musik
Ein Stück lebendige Gotik, gespielt von Catalina Vicens an der historisch-gotischen Orgel in Ostönnen: Conrad Paumann: Mit ganzem Willen wünsch ich dir (aus dem Lochamer Liederbuch) Interessant auch die Art der Notation, die Buchstaben unter den Noten sind vermutlich Akkordsymbole, also eine gotische Parallele zum NGL ? (Korrigiert mich, wenn ich mich irre !)
Bei den Buchstaben würde ich von Formteilen ausgehen. Am Ende steht "return", es wird also etwas wiederholt, ähnlich wie bei einem da capo. Da ich das nie gespielt habe, müsste ich die Stücke genauer anschauen, um zu einer sinnvollen Lösung zu kommen. Bei "Mit ganczem Willen" ist es die linke Hand, allerdings nicht in Akkorden, sondern Einzeltönen.